Anatolien
Das Land des antiken Kleinasien oder die heutige Türkei ist
Anatolien. Anatolien bedeutet "Das Land der Mutter Sonne"
Anatolische Fruchtbarkeitskönigin mit
zwei Herdenschutzhunde ( Catal Hüyük,7000 v. Chr.)
Die historische und kulturelle Landschaft
Die Natur der Türkei mit ihrem vom Menschen geformten
Gesicht ist von der Kultur und Geschichte des Landes nicht
zu trennen. In den meisten abgelegenen und unberührten
Teilen der Türkei spürt der Besucher, daß
an dieser heute unwirtlichen und verlassenen Stelle einst
eine hohe Kultur bestanden hat. Schließlich ist diese
Landschaft seit über 9000 Jahren die Heimat vieler Zivilisationen
mit einem regen Land- und Stadtleben, deren Bewohner unterschiedlicher
Herkunft zu verschiedenen Zeiten in Wellen kamen und sich
mit den vor ihnen Gekommenen vermischten, womit jedesmal eine
neue Synthese entstand. Noch wichtiger ist, daß diese
Landschaft von 2060 v. Chr. bis 1900 n.Chr. Zentrum von Weltkulturen
war. Die Interpretation der heutigen Weltzivilisation sollte
deshalb mit dem Verständnis für das begründet
werden, was sich in dieser Landschaft in den vergangenen vier
Jahrtausenden niedergeschlagen hat und aus den Überresten
altertümlicher Baumonumente spricht.
Bis zur Ankunft der modernen Zeit (die in der Türkei
mit dem konzentrierten Ausbau von Schnellstraßen in
den fünfziger Jahren begann), war diese Landschaft so
beschaffen wie über alle Jahrtausende zuvor. Wenn Sie
das Modell eines Hauses aus einer der ersten bäuerlichen
Siedlungen der Welt vor etwa 7000 v.Chr. im Museum für
anatolische Zivilisationen in Ankara bewundern, wird Ihnen
die Ähnlichkeit zwischen diesem Prototyp und anderen
Häusern, an denen Sie auf Ihrem Weg ins Museum vorbeifahren,
auffallen.
Wie in allen seit langem zivilisierten Gebieten sind Techniken
und Modelle bis in die heutige Zeit durch Überlieferung
erhalten geblieben. Warum sollte etwas, was sich bewährt
hat, verändert werden?
Die in Asia minor, sprich in Anatolien, sprich in der Türkei,
vorhandenen Siedlungsmodelle sind mehr oder weniger dieselben
wie damals. Es ist auch durchaus möglich, daß die
Straße, auf der Sie reisen, diejenige ist, auf der einstmals
große Krieger von Ost nach West marschierten; farbenprächtige
Karawanen zogen; Nachrichtenüberbringer und Geheimkuriere
galoppierten; der Heilige Paulus mit seinen Jüngern wanderte;
die Sufis gingen, um ihre göttlichen Erkenntnisse zu
verbreiten. Anmutige Aquädukte, von den Römern erbaut,
um überhaupt ein städtisches Leben zu ermöglichen,
Hunderte von Brücken des großen Architekten und
Baumeisters Sinan, die heute noch einen sicheren Waren- und
Personentransport gewährleisten, seldschukische Karawansereien
aus dem 12. Jahrhundert, die dem Reisenden, seinen Tieren
und Gütern Schutz boten. Sie können heute sogar
wieder in einer Karawanserei übernachten: einige wurden
zu komfortablen Hotels umfunktioniert.
Und dann kommen die großen Namen aus der Geschichte:
prächtige Städte wie Troja, Pergamon, Ephesos, Milet,
Priene, Aphrodisias, Heracleia, Kaunos, Perge, Aspendos...
alles an der Küste gelegene Siedlungen mit ihren ureigenen
Ruinen, am Stadtrand das traditionelle Amphitheater mit einer
überwältigenden Aussicht, meistens auf Strand und
Meer, und die heutigen Bewohner erzählen, daß einst
Kleopatra dort gebadet habe, die Agora, die Sie nicht suchen
brauchen, da sie dort liegt, wo sie immer zu liegen pflegt,
nämlich auf dem Marktplatz.
Das anatolische Hinterland vermittelt tiefe Eindrücke
von alten Zivilisationen. Hier herrschten Hatti, Hethiter,
Phryger, Lyder, Karer, Urartäer, die sich mit Ägyptern,
Persern und Assyrern vermischten in Legenden, wie die von
König Midas mit den Eselsohren und seinem Schicksal,
daß alles, was er anfaßte, zu Gold wurde; oder
die vom Gordischen Knoten, den Alexander der Große mit
einem Schwerthieb durchtrennte, was ihm laut Orakelspruch
den Weg zur Weltherrschaft bahnen sollte, weiterleben. Und
dann die kleinen Stätten, sowohl religiöse als auch
profane: Klöster, Grabmäler lokaler Heiliger, Helden,
Schauspieler und Dichter, Moscheen, Stadtmauern, Burgen, Wohnhäuser
hoher Würdenträger, Quellen von besonderer Bedeutung,
Friedhöfe... Die Hügel sind mit unzähligen
Keramik- und Tonscherben durchsetzt. In den Mauern neuer Gebäude
erschienen plötzlich Marmorkapitelle und -stufen aus
dem Altertum und der Antike. Kinder spielen, Schafe weiden
auf mit antiken Überresten durchsetztem Boden. Noch bis
vor kurzem wurden die Höhlenkirchen und -häuser
in Kappadokien als Vorratslager gebraucht. Die Aufbewahrung
und der Schutz antiker Werke in der Türkei weist in der
Tat einige Schwierigkeiten auf. Fachleute schlagen die Hände
über dem Kopf zusammen. In anderen Teilen der Welt stehen
die Dinge sorgfältig unter Glas, aber hier müßte
man das mit dem ganzen Land tun! Soll vielleicht die ganze
Bevölkerung nur als Wachpersonal konservierter Artefakte
dienen, ohne an dem stetigen Evolutions- und Erneuerungsprozeß
teilzunehmen? Was oft nicht notiert wird bei den hektischen
Sprüngen von Ruine zu Ruine, von Museum zu Museum, ist,
daß die Geschichte heute und jeden weiteren Tag in jeder
Landschaft und wie in den guten, alten Zeiten
sowohl in der ländlichen als auch in der städtischen
Türkei lebendig ist. Das gilt natürlich nur, wenn
man bereit ist, den Sinn der Geschichte als 'way of life'
zu akzeptieren und nicht in Form von Steinsammlungen und sonstigen
Überresten. Sie sollten wissen, daß man zwar die
einleitend genannten Stätten gesehen haben sollte, aber
bitte bemühen Sie sich auch, die kleinen Enklaven der
'typischen Türkei'- immer noch vorhanden sowohl in den
Großstädten als auch in entwickelten Küstengebieten
und versteckt hinter der ganzen Fremdenverkehrshektik - sie
verkörpern die wahren Werte des Landes.
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